Zivilreligion
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Dr. Martin Erdmann

Kongress christliche Fuehrungskraefte 2„Uns geht es darum, dass wir versuchen, christliche Werte in unsere Gesellschaft einzubringen und das besonders über Führungskräfte", erklärte Helmut Matthies[1] dem Journalisten des Norddeutschen Rundfunks (NDR), als dieser ihn während des Kongresses christlicher Führungskräfte interviewte. Der im Turnus von zwei Jahren stattfindende Kongress wurde 2015 unter dem Motto „Mit Werten in Führung gehen“ in der Hansestadt Hamburg veranstaltet. Nach Angaben der Medien kamen mehr als 3000 Teilnehmer im Congress Centrum Hamburg zusammen, um sich in den drei Tagen vom 26. bis 28. Februar 2015 Vorträge bekannter Persönlichkeiten aus der deutschen Wirtschaft und Politik im Plenarsaal, in diversen Seminaren und weiteren Veranstaltungen anzuhören. Auch wenn die Teilnehmerzahl leicht rückgängig war, zogen die Veranstalter des Kongresses – das evangelikale Nachrichtenmagazin IDEA (Wetzlar) und die Firma tempus (Giengen bei Ulm) – sicherlich am Ende des Kongresses ein positives Resümee.

         Die Schirmherrschaft des Kongresses übernahm der damalige Erste Bürgermeister Hamburgs Olaf Scholz (SPD). Als Plenarredner trat der damalige Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière (CDU) auf. Wie bei den Kongressen in den zurückliegenden Jahren erschien auch 2015 wieder der damalige Bundestagsabgeordnete Volker Kauder, der auch Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion war, um über das Thema „Religionsfreiheit – ein Menschenrecht“ zu referieren. Die damalige Vorsitzende der Partei AfD, Frauke Petry, war ebenso geladener Gast. Andere prominente Persönlichkeiten der deutschen Großkirchen reihten sich in die lange Liste der Referenten ein, wie etwa Dr. Michael Diener, damaliger Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz, Bischöfin Kirsten Fehrs, Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland, der damalige Bischof Dr. Hans-Jürgen Abromeit im Sprengel Mecklenburg und Pommern, und der damalige Weihbischof Dr. Hans-Jochen Jaschke, Erzbistum Hamburg. Bekannte Redner aus dem Ausland waren unter anderem der jetzige emeritierte Prof. John Lennox von der Universität Oxford und Martin Daum, der damalige Präsident und CEO von Daimler Trucks Nordamerika. Die führenden Befürworter der Gesellschaftstransformation in Deutschland, Prof. Dr. Tobias Faix, damals Lehrbeauftragter im Marburger Bildungs- und Studienzentrum, und Prof. Dr. Dr. Volker Kessler von der Akademie für christliche Führungskräfte durften ebenso zu Wort kommen wie der Repräsentant der Geistlichen Gemeinde-Erneuerung Henning Dobers und Manfred Schaller von der Internationalen Vereinigung Christlicher Geschäftsleute. Aus der Zusammensetzung der eingeladenen Referenten wird erkennbar, dass die evangelikalen Veranstalter großen Wert darauflegten, dem Kongress ein ökumenisches Gepräge zu geben. Auf der Fachausstellung präsentierten rund 180 christliche Werke und Firmen ihre Projekte und Produkte. Vom ultracharismatischen Missionswerk Christus für alle Nationen bis hin zu Gegnern von Schwangerschaftsabbrüchen konnten sich die Teilnehmenden Informationen einholen. Das von Reinhard Bonnke gegründete Missionswerk warb um finanzielle Unterstützung mit Hinweisen auf Dämonenaustreibungen und Wunderheilungen während Massenevangelisationen in Afrika.

         Auf der Webseite des Norddeutschen Rundfunks wurden Bilder von verschiedenen Ausstellern gezeigt, die nach Ansicht des Journalisten tendenziös radikale Themen aufgegriffen haben. In der Berichterstattung konnte man den unterschwelligen Ton der Missbilligung nicht überhören. Einige exemplarische Zitate belegen diese Tatsache: „Um christliche Werte soll es auf dem Kongress christlicher Führungskräfte gehen. Vertreten sind dort auch radikale Missionswerke und Abtreibungsgegner.“ Oder:

„Hier [Fachausstellung] werben zahlreiche, teils extrem radikale Missionswerke für Einsätze in arabischen Ländern, in Afrika oder in Indien. Sie wollen andere Länder von der Macht Satans‘ befreien, wirbt eines von ihnen. Ein Missionar meint, in Afrika Seelen retten und ‚Dämonen‘ vertreiben zu müssen – und ‚die Hölle zu plündern‘. An einem anderen Stand liegen kleine Föten aus Plastik und Füße von Föten aus Metall, um vor Abtreibungen zu warnen. Ein paar Meter entfernt hat die Gesellschaft ‚Wort und Wissen‘ ihren Stand aufgebaut. Sie versucht, die Evolutionslehre zu widerlegen und gibt Schulbücher für den Bio-Unterricht mit der Schöpfungsgeschichte heraus.“[2]

         Dass die interviewten Missionare und Mitarbeitenden christlicher Werke Vokabeln wie Satan und Dämonen in den Mund nehmen, wenn sie über die Eigenart ihrer missionarischen Arbeit befragt werden, sollte keinen verwundern, der über die biblische Lehre von unsichtbaren Geistesmächten informiert ist, die sich gegen die Ausbreitung des Christentums stellen. Dass entschiedene Christen sich gegen die Unmenge an Schwangerschaftsabbrüchen und die Verbreitung der Evolutionstheorie stellen, ist genauso wenig überraschend. Die Veranstalter des Kongresses sollten jedoch nicht erstaunt darüber sein, dass Journalisten, die den christlichen Glauben ablehnen, abschätzig über diese ihnen zuwiderlaufende Themenpalette und Ausstellungsgegenstände berichten.

         An diesem Punkt wird deutlich, wie gering der Erfolg ist, in der völlig säkularisierten Gesellschaft Deutschlands christliche Werte überzeugend zu vermitteln. Kampagnen gegen Schwangerschaftsabbrüche sind geradezu ein rotes Tuch für solche, die keine Vorstellung mehr davon haben, was christliche Ethik eigentlich ist und wie sie sich im alltäglichen Lebensvollzug auswirkt. In einem vom Sozialismus geprägten Weltbild hat die Ehrfurcht vor dem Leben und die Würde eines im Bilde Gottes geschaffenen Wesens keinen Platz mehr. Die Illusion der Veranstalter, die dominionistische Zielsetzung[3] der Deutschen Evangelischen Allianz umzusetzen und durch soziales und politisches Handeln die Gunst eines großen Anteils der Bevölkerung zu gewinnen, wird sich wohl nie verflüchtigen, auch wenn man ständig vor den Kopf gestoßen wird, wie die von Vorurteilen und Widerwillen geprägte Berichterstattung des Norddeutschen Rundfunks erneut unter Beweis stellte.

         Die offenkundige Anbiederung der Evangelikalen Deutschlands an die einflussreichen Amtsträger der Bundesregierung und Großkirchen ist schon deshalb nahezu wirkungslos, wenn man Stimmen wie die folgenden aus dem Studio des NDR hört. Ursprünglich war ein Interview mit Bürgermeister Olaf Scholz geplant, das er jedoch ablehnte. Der NDR wollte ihn fragen, ob er die Gelegenheit als Schirmherr des Kongresses ergreifen würde, die Veranstalter mit seiner vermeintlich säkularisierten Weltsicht zu konfrontieren. Die Journalisten waren enttäuscht, dass Olaf Scholz[4] keine Kritik an den Positionen der Veranstalter zum Islam, zur Homosexualität oder zur Abtreibung äußerte, sondern nur auf die im Grundgesetz verankerte Würde des Menschen hinwies und dazu aufrief, alle Menschen gleich zu behandeln. Im Weiteren meinte Scholz, dass zu den Werten „unseres Wirtschaftssystems“ auch die Weltoffenheit sowie Toleranz gehören würden – im Sinne von Respekt gegenüber anderen Religionen und derer, die keine Religion haben. Das sind zwar alles schön klingende Worte, die jedoch mehr dem humanistischen Fortschrittsglauben entnommen sind, als dass sie substantiell eigenständige christliche Werte widerspiegeln. Kein echter Christ wird Anhängern anderer Religionen respektlos begegnen, denn es ist ihm wichtig, die frohe Botschaft des Heils in Jesus Christus effektiv zu übermitteln. An dem Grundsatz der Exklusivität, dass das ewige Heil einzig und alleine durch den Glauben an das stellvertretende Sühneopfer Jesu am Kreuz empfangen werden kann, wird er aber nie abrücken. Liegt in diesem Grundsatz nicht gerade das Anstößige am christlichen Glauben? Es ist leicht sich vorzustellen, welche Erwiderung ein Nichtchrist geben würde, wenn er mit dem Ausschließlichkeitsanspruch des Christentums konfrontiert wird. Ich frage mich auch, ob Volker Kauder nicht nur deshalb zu christlichen Kongressen eingeladen wurde, um über die Religionsfreiheit zu referieren, weil er in der Politik eine einflussreiche Position innehatte? Wäre er nur ein Bäcker an der Straßenecke, aber ein sich selbst aufopfernder Christ in der Verbreitung des Evangeliums, käme keiner der Veranstalter auf ihn zu, um ihn zu bitten, über das zu berichten, was Jesus Christus von seinen Jüngern als oberste Pflicht ansieht. Das Nachrichtenorgan der Katholischen Kirche Kath.net[5] zitierte Kauders Aussagen auf dem Hamburger Kongress wie folgt: „Der evangelische Politiker betonte, dass man nicht alle Muslime in die Nähe von Terroristen rücken dürfe. 99 Prozent der Muslime in Deutschland lebten ihren Glauben friedlich. Für Extremisten gelte aber: ‚Auf der Grundlage des Islam werden Menschen zu Terroristen.‘“ Nicht ein einziges Wort kam aus Kauders Mund, aus dem man schließen könnte, dass Christen in der Pflicht stehen, einem Moslem in aller erster Linie das Evangelium des Heils in Jesus Christus zu verkünden; denn jeder, der das Heilsangebot Gottes nicht kennt oder ihm nicht gehorsam ist, wird einmal mit der Realität konfrontiert werden, die Paulus so ausdrückt: „Die Strafe, die diese Menschen erhalten, wird ewiges Verderben sein, sodass sie für immer vom Herrn und von seiner Macht und Herrlichkeit getrennt sind" (2.Thess.1,9; Neue Genfer Übersetzung).

         Hauptorganisator Helmut Matthies ist weit davon entfernt, deutlich auszusprechen, was das biblische Evangelium tatsächlich über die Sündhaftigkeit aller Menschen und ihren verlorenen Zustand ohne Jesus Christus aussagt. Er betont lediglich, dass die zentralen Themen des Kongresses der „Kampf gegen Korruption und Menschenhandel, Einsatz für Religionsfreiheit, Transparenz und Ehrlichkeit sind“. Sein Mitveranstalter Jörg Knoblauch, geschäftsführender Gesellschafter der Firma tempus, brachte auch nicht viel mehr über seine Lippen, als dem NDR-Journalisten zu bekunden, dass „95 Prozent der Moslems friedliebend und integriert seien, aber wenn du einen Moslem vor die Frage stellst, Demokratie oder Koran, dann muss er in der Regel nicht nachdenken, dann sagt er Koran. Und dann beginnen die Probleme.“

         Auf dem Hintergrund des Hauptanliegens der Herren Matthies und Knoblauch, positiv in die deutsche Gesellschaft hineinzuwirken, muss die Berichterstattung des NDR geradezu wie eine Ohrfeige empfunden werden, wenn behauptet wird, dass die Nähe der Veranstalter zum Rechtsradikalismus offenkundig sei. Matthies wird vorgehalten, im Dezember 2009 „einen Preis der rechtskonservativen Zeitung ‚Junge Freiheit‘ angenommen und für sie – genauso wie mehrere andere IDEA-Mitarbeiter – als Autor geschrieben“ zu haben. Die Osnabrücker Theologin Sonja Strube äußerte ihre Kritik in einem Artikel in der „Theologischen Revue“ dahingehend, dass auf der Internetpräsenz der Deutschen Evangelischen Allianz regelmäßig Artikel aus „neurechten, rechtspopulistischen und islamfeindlichen Medien“ veröffentlicht würden. Kritische Äußerungen bezüglich der fehlenden Religionsfreiheit und vermehrten Christenverfolgungen würden dort „mit antimuslimischer Hetze und umfassender Ablehnung des Islam verknüpft“. Wiederholt seien über dieses elektronische Nachrichtenmedium „in optisch und sprachlich seriöser Form unseriöse Positionen und Texte des extrem rechten Spektrums“ veröffentlicht worden. Das Nachrichtenmagazin IDEA und die Deutsche Evangelische Allianz bestreiten zwar, rechtsradikale Ansichten in der Öffentlichkeit zu verbreiten, haben aber offensichtlich ein Glaubwürdigkeitsproblem. Man muss aber leider feststellen, dass Vorwürfe dieser Art einem Keulenschlag gleichen, der rundherum all diejenigen trifft, die sich gegen ein sozialistisches Weltbild stellen.

         Ich bin überzeugt, dass es Christen nicht gelingen wird, durch Veranstaltungen wie dem Kongress für Führungskräfte, Nichtchristen zur bereitwilligen Akzeptanz christlicher Werte zu motivieren. Denn diese werden mit dem Rechtsradikalismus gleichgesetzt. Und dieser ist so ziemlich das Schlimmste, was jemand in unserer ach so aufgeklärten Gesellschaft befürworten kann. Es kommt dem NDR-Journalisten geradezu seltsam vor, feststellen zu müssen, dass es unter den Teilnehmenden des Hamburger Kongresses viele gibt, die so verbohrt zu sein scheinen, um begreifen zu können, dass die einzigen wirklichen Werte in einer westlichen Gesellschaft die des humanistischen Fortschrittsglaubens sind.

         Der Versuch der Gesellschaftstransformation ist zum Scheitern verurteilt. Ein anderes Resümee kann nicht gezogen werden, wenn man sich den NDR-Bericht über den Kongress sorgfältig durchliest. Wird man in den Führungsetagen der Deutschen Evangelischen Allianz daraus die richtige Lektion lernen? Obgleich die Hoffnung besteht, dass man dies tut könnte, wird die Realität wohl eine andere sein. Man wird der Versuchung wieder nachgeben, Referenten wie Martin Daum einzuladen, die frisch und munter zum Beispiel über „Globalisierung – Segen oder Fluch?“ reden. Welche Antwort er darauf gab, hätte mich auch interessiert, aber ob ich hinter den Aussagen eine Befürwortung christlicher Werte entdeckt hätte, sei dahingestellt. Vielleicht – vielleicht auch nicht.

         Aber das ist es gerade: Wie spezifisch christlich war dieser Kongress für christliche Führungskräfte? Was bedeutet es wirklich, wie Helmut Matthies dem NDR-Journalisten gegenüber zum Ausdruck brachte, dass man darauf bedacht sei, „christliche Werte in unsere Gesellschaft einzubringen und das besonders über Führungskräfte“? Wie wird der Begriff „christlich“ von den Veranstaltern definiert, wenn keinerlei Anstalten unternommen wurden, die teilweise gravierenden theologischen Unterschiede auch nur ansatzweise hervorzuheben, die zwischen den eingeladenen Referenten herrschten? Sind die Wertvorstellungen einer feministischen Landesbischöfin der Evangelisch-Lutherischen Kirche Norddeutschlands mit denen gleichzusetzen, die ein katholischer Bischof im Erzbistum Hamburg einnimmt? Wohl kaum. Ein gemeinsamer Konsens wird wahrscheinlich nur auf der Grundlage einer angestrebten Gesellschaftstransformation zu finden sein, wie sie der damalige Vorsitzende der Deutschen Evangelischen Allianz, Michael Diener, und die Theologen des Marburger Bildungs- und Studienzentrums befürworten. Wie ich in meinem Buch Der Griff zur Macht[6] ausführte, ist es durchaus möglich, das Anliegen der Gesellschaftstransformation als etwas anzusehen, das nichts mit dem eigentlichen Christentum zu tun hat, ja ihm letztlich sogar diametral entgegensteht.

[1] http://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Scholz-unterstuetzt-Kongress-radikaler-Christen,fuehrungskraeftekongress100.html

[2] http://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Scholz-unterstuetzt-Kongress-radikaler-Christen,fuehrungskraeftekongress100.html

[3] Dominionismus: auf die Ergreifung von politischer Macht ausgerichtetes Aktionsprogramm

[4] http://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Scholz-unterstuetzt-Kongress-radikaler-Christen,fuehrungskraeftekongress100.html

[5] http://www.kath.net/news/49639

[6] http://www.cbuch.de/erdmann-der-griff-zur-macht.html