Zivilreligion
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Dr. Martin Erdmann

In unserer Zeit verändert sich die Landschaft des Evangelikalismus in Windeseile. Die ersten deutlichen Zeichen einer rapiden Umgestaltung dessen, was man im Allgemeinen unter konservativem, bibeltreuem Christentum verstanden hatte, wurden in der am 19. Februar 1990 veröffentlichten Ausgabe der Zeitschrift Christianity Today (Heutiges Christentum) erkennbar. Unter dem Titel „Evangelical Megashift”[1] (Evangelikale Veränderung im großen Stil) berichtet der kanadische Theologe Robert Brow über eine Welle des radikalen Gesinnungswandels unter evangelikalen Theologen. Der Evangelikalismus „der neuen Art”, wie er dort genannt wird, erweist sich demnach als haargenaue Kopie des „Auslaufmodells” Liberalismus. Durch Neudefinition der Schlüsselbegriffe versucht diese neue Theologie, dem Christentum einen freundlicheren und liebenswürdigeren Anstrich zu verleihen.

         So definiert dieser „Evangelikalismus der neuen Art” den Begriff Hölle so: „Unmöglich kann jemand in die Hölle kommen, der lieber im Himmel sein möchte.” Die Hölle sei nicht mehr ein Ort ewiger Qual, sondern eine Zufluchtsstätte vor der Gegenwart Gottes, die nur denen offen steht, die absichtlich dort sein wollen.

         Nach der neumodischen Theologie ist das Hauptkennzeichen Gottes seine Güte. Völlig übersehen werden dabei seine Heiligkeit und Gerechtigkeit, sein Zorn und seine Souveränität. Gott wird als Richter nur in dem Sinne verstanden, dass er der „Verteidiger seines Volkes” sei. Sein ausschließliches Interesse gelte „der Freiheit und dem Frieden der Menschen”. Darüber hinaus ist die neumodische Kirche nicht berufen, sich der Welt entgegenzustellen, sondern die Liebe Gottes kundzutun und zu sagen: „Dir sind deine Sünden vergeben.” Auch sollen die Hilfsquellen des Heiligen Geistes allen erschlossen werden, die lernen möchten, wie man Gott und seinen Nächsten liebt und wie man an ihnen seine Freude hat.

         Nach der neuen Theologie war „das Kreuz keine vom Recht geforderte Bezahlung, sondern der sichtbare Ausdruck der ewigen Natur als Sohn in Raum und Zeit”. Das ist nichts anderes als die Neuformulierung der zentralen Behauptung der liberalen Theologie, das Rettungswerk Christi sei keine stellvertretende Versöhnung, sondern diene lediglich als sein moralisches Vorbild. Das ist ein Angriff auf die wichtigste Wahrheit der evangelikalen Theologie und beweist unzweifelhaft, dass manche, die sich gern evangelikal nennen, die Warnschilder längst überfahren haben und nun achtlos und ungebremst den Hang hinabstürzen.

         Wie sieht die Zukunft des Evangelikalismus aus? In einer Artikelserie über die Gemeinde-Wachstums-Bewegung führt Os Guinness aus, dass der traditionelle Evangelikalismus nicht nur gegen weltliche Einflüsse resistent war, sondern dem Weltgeist auch „erkenntnismäßigen Widerstand” leistete. In der Geschichte haben sich Evangelikale immer als Menschen verstanden, die wohl in der Welt, aber nicht von der Welt waren. Jetzt allerdings, „auf dem Zenit des Modernismus, erscheint die Welt so mächtig, verführerisch und verlockend, dass die traditionelle Haltung des erkenntnismäßigen Widerstands äußerst selten, ja beinahe undenkbar geworden ist”.[2] Zu irgendeinem Zeitpunkt haben sich die Evangelikalen dafür entschieden, Freundschaft mit der Welt zu schließen.[3]

         Guinness führt aus, dass wir berufen sind, in der Welt, aber nicht von der Welt zu sein (Joh.17,14-18), doch haben viele Christen diesen Satz umgekehrt und sagen, wir seien von der Welt, aber nicht so richtig in ihr. Sie erlauben den Medien, ihr Denken nach weltlichen Wertmaßstäben umzuformen, während sie andererseits den Menschen in der Welt das Evangelium, wie es zum Beispiel Paulus im Römerbrief formulierte, vorenthalten. Doch gerade in unserer postmodernen Zeit müsste die Botschaft der Rechtfertigung schuldbeladener Menschen vor Gott durch den Glauben an Jesus Christus mit aller Überzeugung und ohne Abstriche verkündigt werden. Stattdessen verliert man sich in Banalitäten.

         „Die Evangelikalen übertreffen heutzutage bei weitem die Liberalen als religiöse Neuerer- und Kompromissfreunde”, schreibt Guinness.[4] Er meint, die unter modernen Evangelikalen so beliebte marktorientierte Philosophie sei nichts weiter als „das Recycling des Irrtums des klassischen Liberalismus”.[5] Überall dort, wo die benutzerfreundliche Theologie Einzug hält, öffnet man dem Liberalismus, der sich seit eh und je für die Verbreitung des Fortschrittsglaubens eingesetzt hat, weit die Tür. Die gleichen Argumente und die gleichen Thesen, denen die Liberalen schon ein Jahrhundert lang huldigen, firmieren jetzt unter dem Titel „evangelikal”.

         Die Inanspruchnahme säkularer Marketing-Techniken im Dienst einer pragmatischen Gemeindewachstumsstrategie erzeugt anfänglich eine positive Resonanz in Menschen, die den traditionellen Kirchen entfremdet sind. Um den Wünschen einer dem Hedonismus (Streben nach Sinnenlust und -genuss) verfallenen postmodernen Gesellschaft entgegen zu kommen, verwandelt man Gottesdiensträume in Vergnügungslokale. Doch der Frage, wohin dies alles schlussendlich führen wird, darf nicht ausgewichen werden. Geben uns die leeren Bänke der dem Liberalismus verfallenen Großkirchen nicht einen düsteren Ausblick auf das, was den evangelikalen Gemeinden bevorsteht, wenn sie weiterhin und verstärkt der marktorientierten Philosophie huldigen, aber nicht bemerken, dass die modern erscheinende „Hip-Hop”-Fassade irgendwann einmal abbröckeln und dahinter der sterile Humanismus liberaler Theologie sichtbar wird?

 

[1] Robert Brow, “Evangelical Megashift,” in Christianity Today (19. Februar 1990), 12-14.

[2] Os Guinness, “Church Growth—Success At What Price?”; “Church Growth—Weaknesses to Watch”; “Church Growth—First Things First”; “Church Growth—the Movement of the Nineties”; www.ligonier.org

[3] S. dazu: Os Guiness, The Gravedigger File (Downers Grove, IL: InterVarsity Press, 1983).

[4] Os Guinness, “Church Growth—Success At What Price?”; “Church Growth—Weaknesses to Watch”; “Church Growth—First Things First”; “Church Growth—the Movement of the Nineties”; http://www.ligonier.org

[5] Ebd.