Politik
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Dr. Martin Erdmann

Freiheit 2Als Literat hat Johannes Calvin Großartiges geleistet. Er hat sich aber auch in praktischer Weise für die Sache der Reformation eingesetzt. Getrieben von einem glühenden Eifer für die Verwirklichung biblischer Grundsätze, stürzte sich Calvin in das Getümmel religiöser, politischer und persönlicher Auseinandersetzungen. Angesichts zahlreicher Rückschläge bewies er ein erstaunliches Maß an Ausdauer und Entschlossenheit, seine Ideale nie aufzugeben oder sich mit einer halben Sache zufrieden zu geben. Bedauerlich ist, dass man sich heutzutage der gewaltigen Leistungen, die der Genfer Reformator über die theologische Arbeit hinaus in der gesellschaftlichen und politischen Arena vollbracht hat, nicht bewusst ist. Nicht nur die Politik einer einzigen Stadt veränderte Calvin, sondern die aller Nationen in Europa, ja letztlich die der ganzen Welt, ohne dass der Reformator dies beabsichtigte. Sein hauptsächliches Augenmerk richtete er auf die theologischen und kirchlichen Probleme seiner Zeit.

Die erstaunlichen Folgen der Kirchenzucht

Er bündelte eine geistlich-moralische Kraft, die so groß und durchschlagskräftig war, dass sie der politisch auf verlorenem Posten stehenden und von übermächtigen Feinden umringten Reformationsbewegung zum Sieg verhalf: Calvin rettete die Reformation vor der Vernichtung und bewahrte dadurch Europa vor dem Untergang. Der Genfer Reformator setzte in der französischen Schweiz eine Reformation in Gang, die solch gewaltige Kräfte entfesselte, dass sie in aller Welt spürbar wurden und sich bis auf den heutigen Tag bemerkbar machen. Das Tragische ist, dass man am wenigsten an Calvin denkt, wenn die Vorzüge einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung zur Sprache kommen. Als Calvin nach Genf kam, merkte er sofort, dass das Evangelium dort zwar verkündigt wurde, die Kirche aber noch weit vom biblischen Ideal entfernt war. Seiner Meinung nach war das Kennzeichen einer wahren Kirche nicht nur die Verkündigung des Evangeliums, sondern dessen bewusste und gewissenhafte Befolgung. Seine Rolle als Reformator sah er darin, als Erster darauf zu drängen, die evangelische Kirche zu dem werden zu lassen, was sie vor den Augen der Welt gemäß der Vorgabe der Heiligen Schrift darstellen sollte. Das geeignete Mittel, mit dem Calvin sein hochgestecktes Ziel erreichen wollte, war nicht die Sonntagspredigt, die Unterweisung oder der Moralappell, sondern die Kirchenzucht. Es überrascht vielleicht, dass die Kirche erst angefangen hat, sich nach biblischen Maßstäben im Ablauf des Gottesdienstes auszurichten und auf moralische Reinheit im Lebensvollzug der Kirchenmitglieder bedacht zu sein, als Calvin vor mehr als vier Jahrhunderten auf die konsequente Durchsetzung der Kirchenzucht in Genf bestand.

Befreiung der Kirche aus der Umklammerung des Staates

Die ordnungsmäßige Durchführung des Gottesdienstes, besonders im Abklären der Frage, wer am Abendmahl teilnehmen darf und wer nicht, stand bei der Kirchenzucht im Mittelpunkt. Eine reine Kirche bedeutete ihm viel; die ihm nachfolgenden reformierten Theologen und Pfarrer hoben ebenfalls die Kirchenzucht als eines der grundlegenden Merkmale der wahren Kirche hervor. Calvins Anliegen war sicherzustellen, dass die sich für Christen ausgebenden Menschen auch tatsächlich gläubig waren. Was er keineswegs wissen konnte, waren die gewaltigen Folgewirkungen in anderen Bereichen als den kirchlichen, die sich aus der Anwendung dieses Prinzips ergaben. Wir haben der Kirchenzucht eine freie Kirche in einem freien Staat zu verdanken. Calvin befreite die Kirche aus der politischen Umklammerung des Staates. Nicht die im Lande regierende Obrigkeit war von Gott dazu bestimmt worden, die internen Angelegenheiten der Kirche zu regulieren und die höchste Autorität in den Glaubensfragen der Christen zu sein, sondern dem König Jesus Christus gehört die Regentschaft in seiner Kirche.

Beschränkung von Christi Herrschaftsanspruch auf die Kirche

Dass Calvin diesen Herrschaftsanspruch Christi bewusst und ausschließlich auf den Bereich der Kirche beschränkte, ist in unserer Zeit besonders wichtig zu beachten. Die Postmillennialisten sind nicht berechtigt, sich auf Calvins vermeintlichen Einfluss auf die Regierung in Genf zu berufen, um ihren eigenen Anspruch auf weltpolitische Macht zu erheben. Calvin führte nicht die Zensur der privaten und öffentlichen Moral in Genf ein. Diese Zensur – oft engherzig, überspitzt und tyrannisch – wurde in allen ähnlich konstituierten Städten Europas praktiziert. Sie gehörte zu der üblichen Reglementierung der Bevölkerung durch die örtlichen Ordnungskräfte. Das einzige Argument, das wir gelten lassen in Bezug auf Calvins Rolle in dieser Zensur, ist, dass er bestrebt war, seinen geistlichen Einfluss zum Wohle der Stadtbewohner auszuüben. Sein Anliegen war, eine gewisse Ordnung in die willkürliche Einsetzung der zivilen Vorschriften zu bringen. Dies war sicherlich eine nötige und positive Leistung. Nie bekleidete er ein öffentliches Amt oder übte politische Macht in Genf aus. Selbst die Stadtbürgerschaft wurde ihm erst gegen Ende seines Lebens erteilt. Wie in so vielem, was man mit dem Lebenswerk Calvins an voreingenommenen Ansichten verbindet, beruht der Vorwurf diktatorischer Herrschaftsallüren des Reformators nicht auf historischer Wahrheit, sondern auf einer böswilligen Interpretation bestimmter Fakten über die herrschenden Sitten der damaligen Zeit, die von Calvin weder hervorgerufen noch befürwortet wurden. Oft fehlt das geschichtliche Wissen über dieses einzigartige Werk Calvins gänzlich, oder es wird mit dem Mantel des Schweigens umhüllt, sofern man darüber Bescheid weiß. Mit Recht kann behauptet werden, dass jeder Schweizer, ja unzählige Menschen auf der ganzen Welt, noch heute einen unmittelbaren und persönlichen Vorteil aus Calvins Wirken ziehen.

Die Kirche kümmert sich um ihre eigenen Angelegenheiten

Die Grundlage seiner Ansicht über die Kirchenzucht legte er schon in der ersten Ausgabe der Institutio im Frühjahr 1536 dar. Als Calvin im gleichen Jahr nach Genf kam, verlor er keine Zeit, um sie in die Tat umzusetzen. 1537 legte er dem Stadtkonzil ein mit den Namen aller Genfer Pfarrer unterschriebenes Dokument vor, indem er das neue Verständnis über die Kirchenzucht zusammenfasste. Das herausragende Merkmal der darin festgehaltenen Prinzipien war nicht das Element der Züchtigung, sondern das der kirchlichen Freiheit. Es wurden drei Punkte vorgeschlagen: Erstens sollte man sicherstellen, wer von den Bewohnern der Stadt wünscht, Mitglied der Kirche Jesu Christi zu sein. Dafür sei es notwendig, ein Glaubensbekenntnis vorzubereiten. Zweitens sollten die Kinder in den Lehren des Glaubens unterwiesen werden. Und drittens sollten bestimmte Personen, die einen guten Ruf unter den Gläubigen besäßen, unbestechlich seien und eine ausgeglichene Gemütsverfassung hätten, als Aufseher ausgewählt werden. Diese würden beauftragt werden, das Verhalten der Kirchenmitglieder zu beobachten, sie zu beratschlagen und zu ermahnen sowie die Aufmerksamkeit der Pfarrer auf die Starrköpfigen zu lenken. Wenn die Letzteren sich als nicht korrigierbare Fälle erweisen sollten, müssten sie so angesehen werden, als seien sie aus der Gemeinschaft der Christen ausgestoßen worden. Als Zeichen der Exkommunikation diene das Verbot der Teilnahme am Abendmahl; auch müssten sie den übrigen Gläubigen als solche benannt werden, mit denen man keine Gemeinschaft mehr pflegen dürfe. Dank dieser Anordnungen der Kirchenzucht wurde Calvin zum Gründer der protestantischen Kirche. Calvin wollte nicht in die polizeilichen Verordnungen der Zivilgewalt eingreifen; in ihrem eigenen Machtbereich würde die Obrigkeit weiterhin die Regierungsaufgaben wahrnehmen wie bisher. Aber der Kirche müsse es freigestellt werden, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.

Anwendung des Prinzips der Freiheit auch in der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft

Der Genfer Stadtrat gestand Calvin 1537 noch nicht zu, worum er bat. Stets war er bereit, in der Verteidigung und Durchsetzung dieses Prinzips, Leiden und Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen. Konkret wird dies 1538 sichtbar, als das Scheitern des Antrages der Einführung kirchlicher Zucht zu seiner Verbannung führte. Selbst als er 1541 aus seinem Exil nach Genf zurückkehrte, verweigerte man ihm die Erfüllung seiner Bitte. Calvin kämpfte unaufhörlich weiter. Erst 1555, also 14 Jahre nach seiner Rückkehr und 18 Jahre nach der ersten Niederschrift in der Institutio, bewilligte der Stadtrat in Genf der Kirche die Zuerkennung ihrer geistlichen Freiheiten. Jede protestantische Kirche, die in aller Freiheit die Aufgaben einer Kirche Jesu wahrnehmen kann, verdankt dies dem unermüdlichen Drängen Calvins auf Kirchenzucht. Das Prinzip der Freiheit, das hier zum ersten Mal im Bereich der Kirche angewandt wurde, setzte sich allmählich in vielen anderen Bereichen des Gemeinwesens durch, so dass sich Institutionen bildeten, die einen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Liberalismus im besten Sinne des Wortes – im biblischen Sinne – hervorbrachten. Die Grundlage für die moderne Welt, in der wir leben, wurde durch Calvin gelegt. Man sollte sich stets bewusst sein, dass die Zuerkennung eines staatsbürgerlichen Rechts der reformatorischen Durchsetzung der Kirchenzucht zu verdanken ist.