Dr. Martin Erdmann
Auszug aus dem Buch Wer sind die ‘Neuen Calvinisten’?, erschienen 2012
Vorwort von Dr. Martin Erdmann
Als ich vor mehr als 20 Jahren meinen Pastorendienst in einer traditionsreichen Baptisten-Gemeinde im Bergischen Land antrat, war es geradezu revolutionär, ja schon fast skandalös, sich öffentlich zur calvinisten Heilslehre zu bekennen. Schnell wurde mir deutlich gemacht, dass Lehren, wie die völlige Verdorbenheit des Menschen, Gottes Erwählung bestimmter Menschen zum Heil und das Sterben Jesu Christi am Kreuz speziell für diese Auserwählten doch ausdrücklich mit der Bezeichnung „Irrlehre“ versehen werden müssten. In der verbalen Auseinandersetzung innerhalb der Gemeindeleitung half es wenig, von der Bibel her aufzeigen zu können, dass diese Lehren durchaus schriftgemäß sind. Nach etwas mehr als einem Jahr des Dienstes wurde mir ans Herz gelegt, ernsthaft darüber nachzudenken, meine Anstellung als Pastor aufzugeben.
Wie sehr hat sich das Blatt in den vergangenen 20 Jahren gewendet! Die Anzahl von Büchern, die calvinistische Lehren verbreiten, hat sich um ein Vielfaches erhöht. An vielen Orten werden jährlich Bibelkonferenzen abgehalten, die sich ganz bewusst auf die reformatorische Theologie berufen und gerade deswegen gut besucht werden. Gerade weil in der evangelikalen Szene die theologische Substanz immer mehr ausgehöhlt wurde und in erschreckender Weise zu beobachten war, dass man in Gemeinden, die selbstbewusst das „Willow-Creek“-Modell umsetzten, eine Erlebniskultur geschaffen hat, die dem Spaßeffekt in einem „Lobpreis“-Event oberste Priorität einräumt, entstand eine Gegenbewegung, die sich ganz neu auf die Lehren der Heiligen Schrift berief. Grundsätzlich freut es mich, diese Entwicklung zu beobachten beziehungsweise durch das Veranstalten von Konferenzen, Wochenendseminaren in Gemeinden und durch das Lehren an theologischen Hochschulen im In- und Ausland selbst mitgestalten zu dürfen.
So ermutigend diese Entwicklung hin zu einer geistig gesunden systematisch-theologischen Schriftbetrachtung auch war, die sich nach außen hin auch in vielen Zeichen eines ganz praktisch ausgelebten Glaubens äußerte, schlichen sich doch hier und da gewisse mystische und dominionistische (d. h. nach Herrschaft strebende) Einflüsse ein, die aus ganz anderen spirituellen Traditionen schöpften. Das durchaus ehrliche Anliegen, auf Grundlage der Heiligen Schrift Gemeinschaft mit Christen zu pflegen, die aus einem anderen kirchlichen Hintergrund kommen, führte dazu, dass man letztlich doch nicht nur das reformatorische Glaubensgut pflegte, sondern auch Vertretern von Traditionen Tür und Tor öffnete, die eigentlich in ihrem Verständnis der Heiligen Schrift in manchen zentralen Lehren dem calvinistischen Bekenntnis widersprachen. Die Bereitschaft, zugunsten der stark wachsenden Bewegung theologische Kompromisse einzugehen, wurde umso deutlicher sichtbar, je mehr man sich in der Öffentlichkeit durch Großveranstaltungen zu profilieren versuchte. Gleichzeitig war man eifrig dabei, ein überregionales Netzwerk von gleichgesinnten Pastoren und Laien aufzubauen, die der Bewegung der Neuen Calvinisten eine gewisse organisatorische Struktur verlieh.
Zu erwarten ist, dass der Neue Calvinismus auch in Zukunft große Wellen schlagen wird, auch für den deutschsprachigen Raum zeichnet sich dies bereits ab. Auch wenn wir den Neuen Calvinisten in manchem gerne zustimmen, überschatten doch die zahlreichen bedenklichen Aspekte in Theologie und Praxis diese Bewegung im Ganzen. Mittlerweile haben sich einige warnende Stimmen erhoben, die auf die dem Neuen Calvinismus anhaftenden geistlichen Gefahren hinweisen. Es ist bedauerlich, dass diejenigen, die sich mit großer Begeisterung der Theologie eines Tim Kellers oder John Pipers anschließen, nicht die nötige Bereitschaft aufbringen, einen biblischen Maßstab an eine gesellschaftsumwälzende Sozialphilosophie (den Dominionismus) und der Verbreitung eines „christlichen“ Hedonismus (John Pipers Hauptbotschaft: ein „christliches Lustprinzip“) anzulegen. Es wäre zu wünschen, dass sich die Anhänger des Neuen Calvinismus hinterfragen lassen, ob das, was sie in der Propagierung der amerikanischen Gospel Coalition tun, auch tatsächlich mit der vorgegebenen konfessionellen Ausrichtung auf das reformatorische Glaubensgut übereinstimmt. Die Anzeichen, dass dies eben nicht der Fall ist, lassen sich nicht mehr übersehen. Einige dieser Anzeichen werden in der hier vorliegenden Analyse von E. S. Williams aufgezeigt.