Dr. Martin Erdmann
Timothy Keller, der ehemalige Pastor der Redeemer Presbyterian Church in New York City, hat in den zurückliegenden Jahren wie kaum ein anderer seine Stimme erhoben, um die Bedeutung der Stadt als zentraler Ort der Evangelisation hervorzuheben. Leidenschaftlich schrieb er über die Stadt und ihre Bewohner in vielen Artikeln, die teilweise immer noch auf der Webseite seiner Kirche[1] abzurufen sind. Seine über den Zeitraum von zwei Jahrzehnten gehaltenen Predigten sind ebenfalls von dem gleichen Thema durchdrungen. Die von Keller entwickelte „Theologie der Stadt“ wird am deutlichsten in einigen Kapiteln seines Buches Center Church entfaltet. Dort erinnert uns Keller an die zentrale Wichtigkeit der Stadt in bestimmten biblischen Darstellungen der Heilsgeschichte: Gott tadelte Jona wegen dessen Weigerung, die Bewohner Ninive über die bevorstehende Vernichtung zu warnen, wenn sie nicht für ihre üblen Missetaten Buße tun würden (Jona 4,11). Jeremia gebot den in babylonischer Gefangenschaft lebenden Juden, sich um das Wohl der Stadt Babylons zu bemühen und im Frieden miteinander zu leben (Jer.29,7). In der Apostelgeschichte gehört den Städten die besondere Aufmerksamkeit des Paulus, um mit optimalem Erfolg das Evangelium zu verkündigen. Johannes beschreibt in seiner apokalyptischen Vision die alles Irdische übersteigende Herrlichkeit einer himmlischen Stadt als ewigem Wohnort aller Erlösten.[2]
Die Städte würden den Geschichtsverlauf bestimmen
Im Anschluss an seine Bibelbetrachtung behauptet Keller, dass die Städte aufgrund einer rasant ansteigenden Bevölkerungsdichte den künftigen Geschichtsverlauf maßgebend bestimmen würden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die christliche Mission künftig an den geographischen Knotenpunkten durchzuführen, wo sich die meisten Menschen tatsächlich befinden.[3] Keller sieht die Städte nicht nur als Ballungszentren der Bevölkerung an, sondern auch als kulturellen Mittelpunkt der Gesellschaft.[4] Aus diesen Gründen legt er den Christen ernsthaft ans Herz, ihre ganze Aufmerksamkeit den Städten der Welt zuzuwenden, um einen maximalen Effekt im Gründen von neuen Gemeinden zu erzielen.
Keller geht es aber nicht nur um eine effektive Umsetzung seiner Missionsstrategie, sondern er besteht darauf, dass die Städte selbst unabhängig von anderen Erwägungen einen Wert besitzen. In dem Kapitel „The Gospel For The City“ (Das Evangelium für die Stadt) führt Keller aus, dass die Städte eine einzigartige Möglichkeit liefern, die Menschen mit anderen in Verbindung zu bringen, die ihnen ähnlich oder unähnlich sind.[5] Im Anbetracht dieser Tatsache sollte die Vielgestaltigkeit der Welt ins Bewusstsein der meisten Christen treten und sie zwingen, das riesige Aktionsfeld der Großstädte dieser Welt in den Fokus zu nehmen, dem das Angebot des Evangeliums gilt.[6] Mit diesen Behauptungen stellt sich Keller ganz entschieden gegen die vorherrschende Meinung unter der Mittelschicht Amerikas, man müsse die Stadt nur als Geschäftszone, nicht aber als Wohnort ansehen. Entschieden weist er jene zurecht, die darauf beharren, die ländlichen Gegenden im Gegensatz zur korrumpierten Stadt als Idylle anzusehen. Es gebe die Zweiteilung zwischen Land und Stadt nicht, wo das eine den Lebenssinn fördert und die andere nur ein trübseliges Existieren ermöglicht. Stattdessen besteht Keller darauf, die Stadt als Wohnort der Menschen anzusehen, die Gott als das Schönste seiner Schöpfung betrachten würde. Das Land ist als geistliches Betätigungsfeld keineswegs idealer und vorteilhafter als die Stadt.[7] Auch wenn die Stadtmenschen anderen Herausforderungen gegenüberstünden als die Landbevölkerung, ganz besonders was die Kriminalität anbelangt, biete die städtische Umgebung allerlei Vorzüge an, die sonst nirgends existierten.
Die Stadt biete Erlösung aus Isolation
Timothy Keller ist in seinen Überlegungen über den besonderen Wert der Stadt vom englischen Poeten und Schriftsteller Charles Williams inspiriert. Dieser hatte „eine Theologie der Stadt“ zirka ein halbes Jahrhundert vor Tim Keller formuliert. Williams war der engste Freund C. S. Lewis. Beide gehörten dem literarischen Zirkel The Inklings in Oxford an, sowie auch J. R. R. Tolkien, Dorothy Sayers, Owen Barfield und einige andere. Auch wenn Charles Williams weniger bekannt war als C. S. Lewis und J. R. R. Tolkien, machte er sich zu seiner Zeit einen Namen als Schriftsteller romantischer Erzählungen. Darüber hinaus wurde er bekannt für seine Bewunderung des städtischen Lebens, denn nur so konnte er sich die Vermittlung der geistlichen Erlösung aus der individuellen Isolation vorstellen. London war für ihn der ideale Ort, wo der Mensch nicht nur sein irdisches Dasein fristet, sondern gleichzeitig in den Zustand des ewigen Heils übergehen würde. In der Stadt werde dem Menschen die geistliche Erlösung aus seiner individuellen Isolation vermittelt. Dabei bezog sich Williams auf die Darstellung der himmlischen Stadt, wie sie Johannes in der Offenbarung beschrieben hatte.
Williams muss vom biblischen Standpunkt aus als Esoteriker bezeichnet werden. Ein Beispiel, wie er theologische Gedanken mit Esoterik verknüpft, ist ein verwirrendes Zitat aus seiner Abhandlung He Came Down From Heaven:
"Die Erfüllung aller Dinge wird der traditionellen Interpretation entsprechend an zwei Stellen in der Bibel beschrieben: zuerst im Hohen Lied des Salomons und erneut in der Offenbarung […]. Im Hinblick auf die erste Beschreibung bezieht sich die Überschrift des Kapitels über das Leiden und die Freude nicht auf Christus und die Seele, sondern auf Christus und die Gemeinde; und die eigentliche Bedeutung des Textes der anderen stellt keineswegs die Vision der abgefallenen oder erlösten Seele dar, sondern die der Stadt."[8]
Charles William war zehn Jahre lang Mitglied der Kultgemeinschaft Fellowship of the Rosy Cross, die sich von Aleister Crowleys Order of the Golden Dawn abgespalten hatte.
Die Stadt sei das zukünftige Königreich Gottes
Williams bezeichnet die Stadt als das zukünftige Königreich Gottes. In seinem Werk The Descent of the Dove behauptet er: „Das Königtum – oder, apokalyptisch betrachtet, die Stadt – ist das, wozu das Christentum berufen wird; aber zieht man diese Vision nicht in Betracht, ist die Kirche noch keine Stadt, sondern sie soll in diese umgewandelt werden.“[9] In einer einführenden Passage des Buchs The Image of the City in English Verse definiert Williams seine Vorstellung der Stadt weiter: „In ihr kommen die vielfältigen Beziehungen zwischen Männern und Frauen so richtig zur Geltung, indem sie zu einer Einheit zusammengebunden werden.“[10] Williams legt scheinbar Gottes Wort aus, in Wirklichkeit verdreht er es und verknüpft Aspekte miteinander, die nichts miteinander zu tun haben. Die Stadt repräsentiert für ihn die Vereinigung von Gerechtigkeit und Ordnung; diese Vorstellung sollte nicht nur als Symbol des göttlichen Heilshandelns am Menschen verstanden werden, sondern als Realität.
Tim Keller führt Williams esoterisches Werk weiter
Williams Theologie inspirierte Timothy Keller, den geistlichen Wert der Stadt in Betracht zu ziehen. Seit geraumer Zeit entwickelt Keller sowohl theologisch als auch pragmatisch eine ähnliche Theologie und führt Williams esoterisches Werk weiter. Charles Williams und Tim Keller vermischten in ihrer „Theologie der Stadt“ grundlegend verschiedene Dinge, um nicht biblische, sondern esoterische Glaubensinhalte zu vermitteln.
[1] https://www.redeemer.com/redeemer-report/author/p6
[2] S. besonders die Kapitel 11 and 12 in Timothy Keller, Center Church (Grand Rapids: Zondervan, 2012).
[3] Philip Jenkins, The Next Christendom (New York City, NY: Oxford University Press, 2011) 116.
[4] Keller, Center Church, 161.
[5] Ebd., 168.
[6] Ebd.
[7] Ebd., 170.
[8] Charles Williams, He Came Down From Heaven (Berkeley, CA: Apocryphile Press, 2005) 97.
[9] Charles Williams, The Descent of the Dove (Vancouver: Regent College Publishing, 2002) 15.
[10] Charles Williams, The Image of the City (Berkeley, CA: Apocryphile Press, 2007) 92.