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Dr. Martin Erdmann

Quelle: Martin Erdmann, Siegeszug des Fortschrittsglaubens (Worthington, OH: Verax Vox Media, 2020) Bd. 2 (gebundene Ausgabe): 613-617 (6.4.2 Identifikation des Ichs mit Gott)

Seit 1800 war die intellektuelle Revolte voll im Gange, die den Deutschen Idealismus weit über die Grenzen seines Ursprungslandes hinaus verbreitete und ihn zur vorherrschenden Philosophie auf dem Kontinent und in Amerika werden ließ. Dieser hatte mit Kant seinen Anfang genommen und in Hegel seinen Höhepunkt erreicht. Der in Stuttgart geborene Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) studierte Theologie an der Universität in Tübingen. Nach seiner Promotion erteilte er Vorlesungen in Theologie und Philosophie an der Universität in Jena und Heidelberg, bis er sich als führender Philosoph und Rektor an der Freien Universität in Berlin – dem Kronjuwel des preußischen Hochschulwesens – einen Namen machte. Hegel kam 1817 in Berlin an und blieb dort bis zum Ende seines Lebens.

Von der Mystik beeinflusst

Als 25-jähriger schrieb Hegel einen Aufsatz über „Die Positivität der christlichen Religion“[1]. In aller Direktheit stellte er sich gegen die christliche Vorstellung, dass der Mensch von Gott dem Wesen nach getrennt sei. Die einzige Ausnahme sei ein einziges Individuum (Jesus Christus), ausgesondert und isoliert von allen anderen. In dieser Auffassung ließen sich Hegel und andere Denker, die in diesem Traditionsstrom standen, besonders von dem deutschen Mystiker Jakob Böhme (1575-1624) beeinflussen, der der dialektischen Philosophie einen pantheistischen Grundton[2] verlieh. Der den Gang der Geschichte vorantreibende Mechanismus sei ein Wechselspiel von sich antithetisch gegenüberstehenden Wirklichkeiten, die sich solange gegenseitig bekämpfen, bis sie schließlich eine neue Wirklichkeit aus den sich zuvor widersprechenden Polaritäten hervorgebracht haben. Böhme fragte sich, wie es der Welt vor der Schöpfung gelingen konnte, im Akt ihrer Entstehung die eigene Umgestaltung in eine völlig neue Erscheinungsform zu vollziehen. Der Mystiker gab sich selbst darauf die Antwort: Vor der Schöpfung gab es eine Urquelle, eine ewige Einheit, ein undifferenziertes, unbestimmtes Nichts, dem Böhme den Begriff „Ungrund“ verlieh. Dieses Nichts besaß, so seltsam dies auch klingen mag, in sich selbst eine vorwärtsdrängende Energie, einen Nisus, eine Kraft der Selbstverwirklichung. Diese Kraft rufe den Willen als Gegenkraft hervor, der das Universum erschuf, indem er das Nichts in etwas Existentes umformte.

Wiedervereinigung mit Gott

Die pantheistische Eigenart der theosophischen Mystik[3] eines Jacob Böhmes rührte größtenteils vom Neoplatonismus[4] her, als ob der einzelne Mensch in der Pflicht stünde, sich mit Gott, dem Einen, zu vereinigen, indem er seine Individualität als eigenständige Person, die als das entfremdete Selbst angesehen wird, aufgibt. Wenngleich sich die Methoden der verschiedenen Mystiker von denen der Mönche des Florenser-Ordens oder der Brüder des freien Geistes unterschieden, ob durch einen Geschichtsprozess oder durch ein vernichtendes Ereignis, bleibt das Ziel dasselbe: die Aufgabe der eigenen Individualität durch eine Wiedervereinigung mit Gott, dem Einen, um die kosmische Entfremdung zu beenden, wenigstens auf der Ebene des individuellen Menschen.

Der menschliche Hochmut wird Grundlage einer Weltphilosophie

Der überwältigende Stolz des Menschen wurde entsprechend der christlichen Lehre darin sichtbar, dass er versucht, göttliche Erkenntnisse und Macht zu erheischen. Dieses sündige Verlangen, Gott gleich zu sein, führte in der Urzeit zum Fall des Menschen und zu seinem Ausschluss aus dem Garten Eden. Als ein durch und durch häretischer Lutheraner besaß Hegel die Dreistigkeit, das hochmütige Begehren des Menschen, wie es in Goethes Faust-Thema zum Ausdruck kommt, zur Grundlage einer Weltphilosophie zu machen, die angeblich einen tiefen Einblick in den unabänderlichen Verlauf der Geschichte vermittelte. Im Zentrum des Faust-Themas lag das intensive Verlangen Fausts, sich absolute Erkenntnis und göttliche Macht anzueignen. Im Geiste der romantischen Bewegung in Deutschland verfolgte Hegel das Anliegen, den Menschen mit Gott zu vereinigen, indem er ihn geradezu mit der göttlichen Wirklichkeit identifizierte, als ob das Wesen des einen in das des anderen ungehindert überfließt. In den Worten des Politologen an der Princeton University, Robert C. Tucker, war der Hegelianismus deshalb „eine philosophische Religion des Ichs, die in der Gestalt einer Geschichtstheorie propagiert wurde. Die Religion gründet sich auf einer Identifikation des Ichs mit Gott“[5]. Es genügt, an dieser Stelle festzuhalten, dass die Bedeutung der Begrifflichkeit des „Ichs“ in Hegels Philosophie nicht das Individuum meint, sondern die kollektive Menschenrasse, sozusagen ein organisches „Ich“.

Der Mensch Jesus Christus entwickelt sich zu Gott

Da die christliche Lehre unverbrüchlich darauf besteht, dass Gott in einer anderen, höheren Welt existiert, die sich außerhalb der Reichweite des Menschen befindet, weigerte sich Hegel geflissentlich, an etwas Übernatürliches wie den christlichen Gott zu glauben. In seiner Schrift Der Geist des Christentums (1799) versuchte er, dieses Problem durch Offerieren seiner eigenen Religion zu lösen. Im völligen Gegensatz zur christlichen Inkarnationslehre, wonach der Sohn Gottes Mensch wurde, sieht Hegel die Errungenschaften von Jesus Christus darin, dass er als reiner Mensch tatsächlich Gott wurde. In seiner Studie Philosophy and Myth in Karl Marx fasste Robert C. Tucker diesen Gedanken wie folgt zusammen. Hegel habe Jesus

nicht als Gott angesehen, der Mensch wird, sondern als Mensch, der Gott wird. Dies war die Schlüsselidee, die dem ganzen Denkgebäude des Hegelianismus zugrunde lag: es gibt keinen absoluten Unterschied zwischen dem menschlichen und göttlichen Wesen. Sie sind nicht zwei verschiedene, durch eine unüberwindliche Kluft voneinander getrennte Dinge. Das absolute Ich im Menschen, der homo noumenon, ist nicht nur Gott ähnlich […], er ist Gott. Demzufolge strebt der Mensch, insofern er sich bemüht, wie Gott zu werden, lediglich danach, sein eigenes wahres Ich zu sein. Und indem er sich vergöttlicht, erkennt er sein eigenes wahres Wesen.[6]

         Wenn der Mensch wirklich Gott ist, welche Bedeutung nimmt dann die Geschichte ein? Warum verändert sich der Mensch und entwickelt sich weiter? Die Antwort liegt auf der Hand: der Mensch-Gott oder Weltgeist, wie ihn Hegel bezeichnet, ist nicht vollkommen oder befindet sich am Anfang seiner Existenz noch nicht in einem vollkommenen Zustand. Der Mensch-Gott beginnt demnach sein irdisches Dasein in Unkenntnis seines göttlichen Wesens. Hegel sieht die Geschichte als einen Prozess an, der es dem Mensch-Gott ermöglicht, sich immer mehr Wissen anzueignen, bis er schlussendlich absolute Erkenntnis besitzt, das heißt die volle Erkenntnis und Verwirklichung seines göttlichen Wesens. Somit gelingt es dem Mensch-Gott zu guter Letzt sein Potenzial als unendliches Wesen völlig auszuschöpfen.

Aufhebung der Trennung zwischen Gott und Mensch

Warum erschuf dann der Mensch-Gott das Universum? Nicht aus überfließender Liebe und Güte, sondern aus einem empfundenen Bedürfnis heraus, sich selbst fortlaufend immer mehr seiner Selbst bewusst zu werden, dass er das Welt-Ich ist. Dieser Prozess eines wachsenden Bewusstseins sei einer kreativen Wirksamkeit zu verdanken, kraft derer sich das Welt-Ich selbst veräußerlicht. Diese Veräußerung geschieht einerseits durch das Erschaffen der Natur, der ursprünglichen Welt, und andererseits durch eine fortlaufende Selbst-Veräußerung über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg. Am wichtigsten sei dieser zweite Prozess, denn dadurch bewirke der Mensch, dieser kollektive Organismus, nicht das Individuum, die Entfaltung der Zivilisation, die gleichzeitig eine kreative Veräußerung seiner selbst darstellt. Nur so gelinge es ihm, sich ein immer größeres Wissen über seine eigene Göttlichkeit anzueignen. Die Welt ist demnach nichts anderes, als des Menschen eigene Selbstverwirklichung. Dieser Prozess ist, so Hegel, die allmähliche Negation der Selbstentfremdung des Menschen und somit die Aufhebung der Trennung zwischen Gott und Mensch. Kurzum der Mensch nimmt die Welt als etwas Feindseliges wahr, weil sie nicht Teil seiner selbst ist; sie ist ihm fremd. Diese Konflikte würden sich auflösen, wenn er schlussendlich begreift, dass die Welt tatsächlich er selbst ist. Diesen Prozess der Verwirklichung bezeichnete Hegel mit dem Begriff „Aufhebung“: Die Welt legt ihre Andersartigkeit ab und verbindet sich mit dem menschlichen Ich.

         Einen kühnen metaphysischen Standpunkt des zwangsläufigen Fortschrittes im Geschichtsprozess legte Georg W. F. Hegel später in einem Sammelband veröffentlichter Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte[7] vor, die sich zu einem dominanten Konzept in seiner gesamten dialektischen Philosophie herauskristallisierte. Hegel zufolge liegt die Bedeutung der Geschichte in der Verwirklichung des Absoluten im Zeitlichen; Weltgeschichte ist demnach „die geistige Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfange von Innerlichkeit und Äußerlichkeit“[8]. Die Selbstentfaltung des Geistes wird in den aufeinanderfolgenden Ausbildungen der Sozialordnung und in dem Werdegang welthistorischer Völker wahrgenommen. Die Menschheitsgeschichte, die ihrem innerweltlichen Entwicklungsgang entsprechend der ihr eigenen Rationalität folgt, bewege sich in Richtung Freiheit; die höchste Form derselben habe sich in der deutschen Romantik konkretisiert. Die Aufgabe des Staates sei es, die Gesellschaftsordnung zu wahren, um den sozialen Gruppen ein zivilisiertes Leben zu ermöglichen.

Ideologische Revolution verändert Europa

Der Hegelianismus war in den Händen seiner Protagonisten das bevorzugte Instrument, um eine ideologische Revolution in Europa durchzuführen, die das politische, soziale und ökonomische Leben des Westens zugunsten eines Denksystems veränderte, das schließlich im Sozialismus und Existenzialismus zur vollen Blüte kam. Die deutschen Hegelianer hatten scharfsinnig die radikale Ausrichtung ihrer idealistischen Philosophie erkannt. Mit völligem Widerwillen nahmen sie Hegels Bemühungen wahr, seinen vergeistigten Pantheismus mit einer dünnen Schicht lutherischer Theologie zu übertünchen. Dass dieser irregeleitete Versuch letztlich zum Scheitern verurteilt war, stand ihnen deutlich vor Augen. Dennoch setzten sich lutherische Theologen und Kirchenhistoriker, wie David Friedrich Strauß und Ferdinand Christian Baur, mit großem Engagement ein, Hegels Vorhaben selbst nach dem Tod des Philosophen im akademischen und kirchlichen Umfeld fortzusetzen. Das tragische Ergebnis war jedoch die Verbannung der noch verbliebenen Überreste reformatorischer Theologie aus dem Luthertum. Eine neue Bewegung entstand, die sich aus den Trümmern eines durch die napoleonischen Kriege am Boden liegenden Deutschlands erhob und sich über ganz Europa ausbreitete. Sie bemächtigte sich besonders des Denkens der Völker, die Deutschland zuvor militärisch in die Knie gezwungen hatten. Als der Hegelianismus allmählich in Frankreich, England und Amerika die Zitadellen der Gelehrsamkeit eroberte, stellten sich entsprechend der vorherrschenden kulturellen Strömungen verschiedene Veränderungen in seiner konzeptionellen Zusammensetzung ein. Dennoch kann man festhalten, dass die markanten Charakteristiken, welche die Philosophie von Anfang an kennzeichneten, erhalten blieben, wenngleich neue Elemente hinzukamen. Eine Reihe von philosophischen Prinzipien diente als leicht erkennbarer Identifikationsfaktor, die allmählich die wichtigsten Eckpfeiler einer pantheistischen Weltanschauung wurden.

 

[1] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Hegels theologische Jugendschriften (Volksreligion und Christentum, Das Leben Jesu, Die Positivität der christlichen Religion, Der Geist des Christentums und sein Schicksal, Systemfragment, Entwürfe (Tübingen: J. C. B. Mohr, 1907).

[2] Pantheismus: Der Ausdruck Pantheismus (von altgriechisch πᾶν pān „alles“ sowie θεός theós „Gott“) bezeichnet die Auffassung, dass „Gott“ eins mit dem Kosmos und der Natur ist. Das Göttliche wird im Aufbau und in der Struktur des Universums gesehen, es existiert in allen Dingen und beseelt alle Dinge der Welt bzw. ist mit der Welt identisch. Somit ist hier kein persönlicher bzw. personifizierter Gott vorhanden. Deshalb wird häufig ein durch geistige Eigenschaften definierter Urgrund als einziges Grundprinzip (Monismus) angenommen. Der vonseiten der Theologie häufig vorgebrachte Einwand, dass der Pantheismus (deutsch auch „Allgottlehre“) identisch mit dem Atheismus sei, ist nur in dem Sinne gerechtfertigt, dass in der Tat kein von der Welt verschiedener Gott angenommen wird; keineswegs jedoch, dass überhaupt kein Gott bzw. göttliches Prinzip angenommen wird. https://de.wikipedia.org/wiki/Pantheismus

[3] Theosophie: griech. göttliche Weisheit, religiöse Lehre, nach der eine höhere Einsicht in den Sinn aller Dinge nur in der mystischen Schau Gottes gewonnen werden kann. https://www.duden.de/node/182037/revision/182073

[4] Neoplatonismus: Plotin gilt als der Schöpfer des Neuplatonismus (Neoplatonismus), doch er betrachtete sich nicht als Neuerer, sondern als treuen Anhänger der Lehre Platons, und auch die späteren Neuplatoniker wollten keine neue Philosophie schaffen, sondern nur Platons Weltdeutung und deren Konsequenzen korrekt darlegen. Ihre Annahmen stützten die Neuplatoniker durch Berufung auf einschlägige Stellen in Platons Werken ab. Dennoch führte der Neuplatonismus zu einer Umformung der Tradition und war faktisch eine neue Lehre, denn es wurden aus Ansätzen Platons Konsequenzen gezogen, die den Platonismus radikalisierten und neuartig ausgestalteten. Metaphysische Fragen dominierten, während die politische Philosophie, mit der sich Platon intensiv beschäftigt hatte, in den Hintergrund trat. https://de.wikipedia.org/wiki/Neuplatonismus

[5] Robert C. Tucker, Philosophy and Myth in Karl Marx (Cambridge: Cambridge University Press, 1961) 39.

[6] Ebd., 41.

[7] Eva Moldenhauer & Karl Markus Michel, Hss, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, [1837] 1986).

[8] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Dritter Teil, Die Sittlichkeit, Dritter Abschnitt, Der Staat, C. Die Weltgeschichte, § 341, in Eva Moldenhauer, Hrsg., Werke in 20 Bänden mit Registerband, Band 7 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 2004).